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Unser neuer Alltag - zwischen Struktur und Flexibilität

Ein hoffnungsfroh schönes Wochenende liegt hinter Dir und es ist wiedermal der Auftakt in eine neue Woche. Wir haben nun einige Ausnahmewochen mit eventuellen Höhen und Tiefen schon hinter uns gebracht und fragen uns nun natürlich alle die Fragen aller Fragen „Wie lange noch?“. Das ist schon irgendwie komisch, so in der Schwebe zu leben, in einer Interims-Situation, die sich jederzeit ändern kann, wir wissen bloß immer noch nicht, in welche Richtung. Sich treiben lassen? Augen zu und durch? Kopf in den Sand? Cocooning? Faktencheck rund um die Uhr? Wir lernen uns in Ausnahmesituationen wie diesen immer wieder neu kennen und doch greifen wir gewohnheitsmäßig immer erstmal auf unsere bislang bewährten Strategien zurück, die uns Halt und Sicherheit geben.

 

Gib dem Alltag und Deinen Kindern Struktur, das hören und lesen wir überall. Und das ist auch grundsätzlich richtig. Nur… was machst Du eigentlich, wenn Du Dir oder Ihr Euch ganz klar eine wundervolle Tages- und Wochen-Struktur durchdacht habt und es sich wunderbar übersichtlich anfühlt und wenn alles so klappt wie Du Dir das vorstellst, die kommende Zeit richtig easy-going werden könnte… 

 

Und dann hat der Eine schlechte Laune und will die Aufgabe wiedermal später erledigen, wo Du eigentlich „Freizeit“ vorgesehen hattest. Der Andere hat heute keine Lust auf Homeschooling, ständig musst Du Deine Homeoffice-Zeit unterbrechen, weil die Kinder streiten und es gerade einfach nicht selbst geklärt kriegen. Du merkst schon morgens, dass das mit dem heutigen Zeitplan etwas knapp sein könnte oder Dein Partner kann die Aufgaben mit Dir heute nicht so wuppen, weil er Schnupfen hat und Ihr Euch neu austarieren müsst. Und da spürst Du es: entweder als Druck im Nacken, im Rücken oder in der Brust oder es kommt ganz langsam durch Deine Gedanken durch… das schlechte Gewissen, dass Struktur - gerade auch für Deine Kinder - doch so wichtig ist und Du es wiedermal nicht geregelt bekommst. Die anderen aber schon. Die haben sogar Zeit, ihre Bastelnachmittage auf Instagramm oder über ihren Whatsapp-Status zu posten. Und schon hat sie zugeschnappt, die schlechte-Laune-Falle… 

 

Lass uns das nochmal in Ruhe miteinander durchgehen. Strukturen sind wichtig. Definitiv. Das hat auch einige Gründe. Da ich oft ein „weniger ist mehr“ bevorzuge, verzichte ich im Folgenden auf Vollständigkeit und nenne Dir nun drei wesentliche Fürsprecher. 

 

Die Natur und wir Menschen schwingen in Rhythmen: Tag und Nacht, die Jahreszeiten, die Mondphasen, unsere „circadianen Rhythmen“ (z.B. der Schlaf-Wach-Rhythmus oder unsere Organfunktionen/ der Hormonspiegel), unsere Musik inkl. Tänze, unser Balancebedürfnis in den unterschiedlichsten Themen (Nähe-Distanz, Anspannung-Entspannung, Kontrolle-Vertrauen, usw.). Uns geht es meist dann gut, wenn wir in Balance und in Einklang mit einer Rhythmizität sind. Besonders gut können wir unser Bedürfnis nach Rhythmus in Umbruchsituationen erkennen, wenn wir in den neuen Modus immer erst mal „reinkommen“ müssen. Dass es ein wenig gedauert hat oder vielleicht immer noch andauert, die Homeoffice-Zeiten mit den Bedürfnissen der Kinder in Einklang zu bringen, versteht sich von selbst. Auch ist es ratsam und erholsam zugleich, wenn wir die Wochenenden klar als Pausen vom Alltag verstehen und gestalten. Schon seit Jahrtausenden wissen alle Religionen, dass es sowohl Alltag als auch Feiertag geben darf – auch wenn wir uns derzeit selbst drum bemühen dürfen. 

 

Strukturen schaffen uns eine Übersicht. Unser Gehirn ist darauf ausgelegt, alle eingehenden Informationen, die wir durch unsere Sinne wahrnehmen, zu sortieren. Permanent und meist unbewusst werden Informationen in unser Gehirn gespült, wir erkennen Gesichter, Formen, Farben, Gerüche usw., die wir gewissen Gruppen zuordnen. Im Volksmund manchmal leicht abfällig „Schubladendenken“ genannt, aber im Großen und Ganzen höchst effektiv, weil wir uns dadurch leichter zurechtfinden können in der Welt. Parallelen finden sich übrigens dazu beim Aufräumen und Ordnung halten zu Hause. Wenn wir also wissen, dass es um Uhrzeit xy Mittagessen gibt, können wir drum herum planen und alle Familienmitglieder haben eine Orientierung.

 

Strukturen geben uns Sicherheit. Wir gehen jeden Tag zur Arbeit, wissen also, wann wir morgens aufstehen, wann wir nicht zu Hause sind, in welchem Zeitfenster wir unsere Kinder sehen. Das gibt uns nicht nur eine Übersicht, sondern auch Halt und Sicherheit. Mit dem Ungewissen konfrontiert zu sein, mag beim einen ein kribbelndes, wohltuendes Gefühl der Spannung auslösen, beim anderen breiten sich aber Existenzängste aus. Dass dies nicht aus der Luft gegriffen ist, sehen wir ja gerade sehr deutlich auf dem Arbeitsmarkt. Wenn wir uns nun also in unserem Alltag Pläne machen, neue und andere Strukturen erschaffen, dann ist das ein ganz probates Mittel, die eigenen Unsicherheiten gefühlt und wieder in den Griff zu bekommen, wir fühlen uns kompetent und wissen, wonach wir uns zu richten und zu handeln haben. Diese eigene Sicherheit braucht es übrigens, damit wir diese ebenso unseren Kindern vermitteln können. 

 

Nun ist es mein Beruf und meine Leidenschaft, mich mit anderen Menschen zu unterhalten (ja, das geht auch in diesen Tagen - „trotzdem“ ), mich mit ihnen auszutauschen und zu erfahren wie es ihnen geht. Und so kriege ich oft die große Bandbreite des Lebens mit, manchmal auch Dinge, die man sich nur hinter vorgehaltener Hand erzählt. Solltest Du nun auch zu den Menschen gehören, die immer wieder versuchen, eine Struktur im Alltag aufzubauen und immer wieder ihre liebe Not damit haben, dann sag ich Dir so ganz im Vertrauen „Du bist nicht die Einzige“! Nicht nur Dir geht es so. Und wenn es so einfach wäre, dann würde es die vielen Artikel, Empfehlungen und Ratschläge zu diesem Thema derzeit gar nicht geben. Dann wäre die Alltagsgestaltung ganz selbstverständlich und ein Leichtes. Aber so einfach ist es eben nicht. Oder eben doch. Weil…  

 

Strukturen haben immer einen definierten Geltungsbereich. Wenn Deine Freundin mit festgelegten Uhrzeiten gute Erfahrungen macht, Du aber permanent das Gefühl hast, der Zeit hinterherzuhinken, dann passt dieses Konzept vielleicht einfach nicht in Deine Familie mit ihren individuellen Bedürfnissen. Deine Nachbarin hat ganz klare Homeoffice-Zeiten, in denen ihre Kinder parallel malen, basteln und in sich versunken spielen und Du kannst machen, was Du willst, Deine Kinder rufen Dich ständig und mit halbem Ohr bist Du sowieso bei ihnen. Die „eine Sache“, die Du einfach noch kurz erledigen willst, zieht sich dadurch wie Kaugummi in die Länge oder Du musst den Rest zähneknirschend dann doch später beenden. Dass ein konzentriertes Arbeiten anders aussieht, versteht sich von selbst. Unten gebe ich Dir gleich noch ein paar Gestaltungs-Ideen. Aber eines vorweg: es nimmt Dir zusätzlich die Kraft, wenn Du Dir Selbstvorwürfe machst oder Du das Gefühl hast, dass alle anderen außer Dir in der Lage sind, ihren Alltag strukturiert, planvoll und zielgerichtet zu leben. 

 

„Das ist nur eine Phase“… wie oft habe ich diesen Satz bei Familien mit kleinen Kindern schon gehört. Das hat so manche Mutter die Dürrezeit ohne Schlaf oder mit zahnenden Kindern überstehen lassen. Da war doch irgendwie noch ein Silberstreifen am Horizont. Und wir dürfen nicht vergessen, dass die meisten Lösungen ja doch Interims-Lösungen sind. Ja, wir haben gerade eine Ausnahmesituation und ja, sie scheint sich gerade zu verändern und sie wird sich auch weiterverändern. Aber haben wir das nicht unser ganzes Familienleben schon? So ein wenig auf der Durchreise sind wir schon allein deswegen, weil unsere Kinder rasend schnell groß werden, Bedürfnisse immer wieder neu verhandelt werden müssen, und wie wir uns kleinen Kindern gegenüber verhalten, gilt für größere ganz bestimmt nicht mehr. Manchmal erfordert das ganz schön viel Pragmatismus, manchmal reicht es die Tür mit einem Dietrich, statt mit dem einen exakt passenden Schlüssel aufzubekommen. Überlege also immer wieder, was gerade die Prioritäten in dieser besonderen Zeit sind, was derzeit wichtig für Dich und Deine Familie ist, wie Ihr diese Zeit gut miteinander überstehen werdet. Manchmal können dabei klare Strukturen helfen, manchmal brauchen wir Flexibilität.

 

Strukturen sind nur sinnvoll, wenn sie uns dienen. Wenn Du also das Gefühl hat, dass Dir Deine derzeit geschaffene Tages-Struktur ein schlechtes Gewissen bereitet, weil Du sie trotz vieler Versuche nicht einhalten kannst und es Dir nur mühsam und anstrengend erscheint, sie aufrecht zu erhalten und permanent (!) gegen familiären Widerstände durchzusetzen, dann darfst Du Dir überlegen, ob Du/ Ihr sie  nicht ein wenig verändern möchtet. Oft hilft es schon, an ein paar kleinen Stellschrauben zu drehen. 

Manchmal ist es schon hilfreich, eine bestimmte Abfolge stattfinden zu lassen, statt an Uhrzeiten zu kleben. Wenn nicht bestimmte externe Termine eingehalten werden müssen, wer sollte Dich mit der Stechuhr kontrollieren wollen? Und schau mal, ob die vorhergesehenen Zeitabschnitte für Dich und Euch realistisch sind. Manchmal neigen wir nämlich dazu, Dinge als zu groß oder zu klein einzuschätzen - da schadet eine Fein- oder Nachjustierung hin und wieder nicht.

Bei Kindern ist eine gewisse Übersichtlichkeit der Tagesgestaltung von Vorteil, damit sie sich orientieren können und nicht ungeduldig werden. K leine Kinder haben zum Beispiel ein vollkommen anderes Zeitverständnis als Du. So könntest Du kleinere Tageseinheiten festlegen: bis ich die Küche aufgeräumt habe/ bis der Wecker klingelt/ bis zum Mittagessen machen wir/ darfst Du xy.

Und auch Wahlmöglichkeiten sind für Kinder nie verkehrt: willst Du erst x oder y erledigen (die Notwendigkeit des Machens ist klar, die Reihenfolge entscheidet aber das Kind) oder bis wann willst Du xy erledigt haben… dies hilft Kindern, nach und nach selbst innere Strukturen zu entwickeln und aufzubauen.

 

Bevor ich Dir gleich eine gute Woche wünsche, noch eine abschließende Anmerkung. Manchmal müssen wir einfach nach „Versuch und Irrtum“ vorgehen. Unvoreingenommen ausprobieren. Schauen, was funktioniert und was nicht. Höre den Erfolgsrezepten Deiner Mitmenschen offen zu, frage gezielt nach wie sie es machen, dass gewisse Dinge funktionieren und probiere aus, wenn Du meinst, dass es ein guter Weg ist. Und dann zieh die richtigen Schlüsse: nicht im Sinne von „das klappt nicht, weil ich es nicht kann“, sondern im Sinne von „jetzt weiß ich wie es nicht geht“. Frei nach Thomas Alva Edison, dem Erfinder der Glühbirne. Das ist nicht unbedingt der schlechteste Weg, denn der hat ja bekanntlich Geschichte geschrieben. 

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