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Was bleibt in der Familie? - Ein Gastartikel von Dr. Susanne Gebert

Ich arbeite seit acht Jahren als Biografin und mir brennt jedes Mal das Herz, wenn ich in Internetforen die Frage lese, ob man alte Fotoalben und Familien-Stammbücher wegwerfen darf, oder auf Flohmärkten liebevoll gestaltete und beklebte Alben aus Großmutters Zeiten zum Verkauf oder sogar zum Verschenken angeboten werden.

Kann man seine Familiengeschichte einfach weggeben, um mehr Platz für Neues zu schaffen?
Ne, ganz bestimmt nicht, auch wenn man das vielleicht manchmal gerne möchte. Wegschmeißen und einfach vergessen geht übrigens auch nicht. 

Welchen Wert alte Familienfotografien und -geschichten haben, merkt man meistens erst, wenn sie nicht (mehr) da sind. 

Ich arbeite oft mit Menschen zusammen, die viel Zeit und Mühe investieren, um die Geschichte ihrer Familie in Archiven und mittels Ahnenforschung zu rekonstruieren. Es geht dabei meistens nicht um den Familienstammbaum bis 1576 (und der stillen Hoffnung, dass doch noch ein Rittergutbesitzer dabei ist), sondern sehr praktisch um das Leben, das Eltern und Großeltern geführt haben.

 

Warum das so ist? Weil sie ein Teil von uns sind.

 

Oder, wie es die Hamburger Psychologin Sandra Konrad in ihrem lesenswerten Buch „Das bleibt in der Familie“ sehr viel schöner formuliert: „Es ist der Lauf der Dinge, Zeichen einer gesunden Entwicklung, dass wir uns ablösen von den Eltern und uns aufmachen, uns selbst zu finden. Aber – wer sind wir, wer sind Sie, wer bin ich wirklich? Und inwieweit sind wir etwas Eigenes oder doch nur das Produkt unserer Eltern und unserer Vorfahren?

 

Selbstverständlich sind wir alle etwas Eigenes und ganz Einzigartiges, aber es macht einen Unterschied, ob wir als Kind bis zum höchsten Punkt des großen Klettergerüsts auf dem Spielplatz klettern durften, oder ob unsere Mutter ab Sprosse drei neben uns zum Auffangen parat stand und „Vorsicht, Vorsicht, Vorsicht!“ gerufen hat. 

Unsere Rolle in unserer Herkunftsfamilie – älteste Tochter oder Nesthäkchen? –, Mamas Selbstzweifel, Omas Verluste oder Papas Unzufriedenheit – das alles hat uns und unserem Denken, Fühlen und Handeln eine Richtung gegeben, die wir als Erwachsene oft unbewusst beibehalten, wenn wir sie uns nicht bewusst machen und aktiv ändern (sofern wir das wollen). 

Besonders dann, wenn’s knirscht und hakt, wenn man mit sich oder dem Rest der Welt hadert und einfach nicht zur Ruhe kommt, ist es oft sehr sinnvoll, die Geschichte seiner Herkunftsfamilie genauer unter die Lupe zu nehmen. Oft findet man dann alte (destruktive) Muster und Verhaltensweisen, die uns lähmen und behindern.

Sandra Konrad, die in Hamburg als Therapeutin arbeitet, berichtet beispielsweise von Paartherapien, die zu erbitterten Kreuzzügen zwischen Familientraditionen werden, weil der eine Partner den anderen überzeugen will, „dass das, was er selbst fühlt und denkt, richtiger ist als die Gefühle und Gedanken des anderen.

Familiengeschichte ist aber nicht nur problembeladen, sondern auch sehr inspirierend. 


Klar, nicht alles, was man so im Stammbaum hat, ist bewundernswert, aber es gibt in unserer Ahnenreihe auch jede Menge beeindruckender Menschen, auf die man richtig stolz sein kann, sobald man sie näher kennengelernt hat: Selfmade-Uropas und -Uromas, die sich aus dem Nichts eine Existenz aufgebaut haben, Liebespaare, die trotz Verboten und drohender Enterbung zueinander gefunden haben und bis an ihr Lebensende glücklich miteinander waren, die schöne Großtante, die alle Männer um den Finger gewickelt hat, die mutige Urgroßmutter, die mit ihren drei kleinen Kindern zu Fuß durch Eis und Schnee von Ostpreußen nach Hamburg geflohen ist. 

 

Es ist ein bunter Haufen spannender Geschichten und toller Menschen, die zusammenkommen, sobald man anfängt, sich näher mit seinen Vorfahren zu beschäftigen. 

Wann man anfangen sollte, seine Familiengeschichte aufzuschreiben und dadurch auch für die eigenen Kinder, Nichten und Neffen aufzubewahren?


Am besten gleich! Und zwar ohne große Vorausplanung, dafür aber mit der gesamten Ü70-Generation, die man in seiner Familie finden kann. 

 

Alte Fotos, die besonders interessant und schön sind, einscannen, ausdrucken und mit einem netten Begleitschreiben und der Bitte, alles, was ihnen dazu einfällt, aufzuschreiben, an Oma, Opa und sämtliche Großtanten und -onkel verschicken.

Der Vorschlag, gemeinsam die Familiengeschichte zu Papier zu bringen, wird erstmal alle verblüffen. Bis auf wenige Ausnahmen werden alle behaupten, dass ihnen dazu nichts einfiele. 


Aber keine Sorge, viel Überzeugungsarbeit muss man nicht leisten, denn früher oder später werden die Erinnerungen wach – und die Lust an der gemeinsamen Geschichte auch.

 
Ich hatte in meinen acht Jahren Biographiearbeit noch keinen einzigen Fall von Totalverweigerung – im Gegenteil, die meisten Familien rücken mit dem gemeinsamen Projekt Familiengeschichte aufschreiben noch enger zusammen.


Und das tut besonders den älteren Familienmitgliedern gut, die sich während der Lockdowns mit sozialen Kontakten besonders zurückhalten
mussten. Kontakt zueinander und eine Aufgabe, die uns neugierig und außerdem Spaß und Freude macht, brauchen wir schließlich alle, um uns glücklich zu fühlen.

 

Mit dem gemeinsamen Projekt tut man seinen Lieben etwas Gutes, sich selbst aber auch. Denn die Geschichte unserer Herkunft sind unsere Wurzeln, die uns Halt geben. Und wer Wurzeln hat, dem können Flügel wachsen. Seine eigene Herkunft in Ehren zu halten, ist ein Teil von Selbstfürsorge – gerade auch dann, wenn nicht alles super war.

Falls von euch irgendwann jemand dann doch mit seinen alten Familienfotos auf dem Weg zur Papiertonne sein sollte, erscheine ich ihm oder ihr deswegen hoffentlich ab sofort als (guter?) Geist, der/sie zur Umkehr bewegen kann.


Auch wenn Platz und Zeit knapp sind: Gebt eurer Familiengeschichte zumindest noch eine Weile Asyl, auch wenn sie euch im Moment als Last vorkommt. Ein kleines Fleckchen ganz hinten im Schrank oder im Keller wird sich bestimmt finden. Oder gebt sie einem Mitglied eurer Familie, das Zeit und Lust hat, sich mit dem Thema Familiengeschichte auseinanderzusetzen.

 

Und wenn’s wirklich nicht anders geht: Alte Fotos dürfen wegen ihrer Beschichtung nicht in die Papiertonne, sondern müssen in den Restmüll. Aber das wäre wirklich, wirklich sooo schade!

Mehr über Dr. Susanne Gebert erfährst Du hier

 

Übrigens.: am Donnerstag, den 16.12.2021 um 20h laden wir, Susanne (@geschenkemadeformama) und Corinna (@mamagement_news), zum Expertinnen-Talk "Vertrauen beginnt in der Familie" bei Instagram-Live ein.

 

Klick Dich gerne dazu, wir freuen uns auf Dich!

 

Und wenn Du Fragen zu diesem Thema hast, die wir in unserem Gespräch beantworten dürfen, schreibe sie gern unten in die Kommentare!

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