· 

Wohin mit all der Traurigkeit?

Ja, auch ich bin derzeit traurig. Nicht ständig, aber immer wieder mal. Sie bricht im Alltag an der ein oder anderen Stelle durch, obwohl ich vielleicht im bisherigen Tagesverlauf schöne Erlebnisse hatte. Kennst Du das?

 

Wenn Du meine Schreib-, Arbeits- und Lebensweise schon ein wenig kennengelernt hast, dann weißt Du, dass ich gerne und aus guten Gründen den Fokus auf die positiven Aspekte setze. Denn sie bringen uns letztlich immer wieder in unsere Kraft zurück und helfen uns, seelisch gesund zu bleiben, uns weiterzuentwickeln und unser Leben nach vorne zu leben.

 

Dennoch ist das nur eine Facette in unserem unglaublich vielseitigen Leben, die eine Seite der Medaille. Denn wenn wir Menschen die Fähigkeit besitzen zu fühlen, dann fühlen wir eben die ganze Bandbreite. Die freudvollen Momente sind ohne die schmerzhaften nicht möglich. Da hilft auch kein Schönreden, denn Gefühle sind nun mal Gefühle und sind einfach da. Sie kommen und gehen. Sie sind unsere ständigen Begleiter. Sie sind unsere Ratgeber, unsere Richtungsweiser, unsere Wahrheit. Ein „da brauchst du doch nicht traurig sein“, „du hast keinen Grund zu weinen“ oder „anderen geht es noch schlechter“ hilft uns in aller Regel nicht weiter. Denn durch solche Äußerungen entsteht nicht nur ein zwischenmenschlicher Graben, sondern lässt uns im Laufe des Lebens an unseren eigenen Gefühlen zweifeln und sie bei guter Übung immer mehr verdrängen.

 

Was vielen äußerst vertraut sein dürfte ist die Art und Weise, wie wir mit unangenehmen Gefühlen oft umgehen: statt sie genauso wie die positiven Gefühle anzuehmen, kämpfen wir mit uns selbst. Nicht körperlich (dieses Bild stell´ ich mir grad ziemlich interessant vor…), aber innerlich. Mit Selbstvorwürfen, Selbstanklagen, Wut und wenn Du mutig in Dich reinhörst, spürst Du da bestimmt noch viel mehr. Und mit diesem inneren Konflikt gehen wir dann raus in die Welt, begegnen unseren Kindern, unserem Partner, unseren Eltern, unseren Arbeitskollegen. 

 

Trauer/ Traurigkeit ist eine normale Reaktion auf Verlust. Und davon gibt es im Moment ja so einiges, denn uns wird seit Monaten viel Verzicht und Frustrationstoleranz abverlangt. Wir hätten gerne „unser altes Leben“ zurück und gleichzeitig merken wir, dass uns dieses „zurück“ derzeit verwehrt ist. Zusätzlich leben wir in einer Gesellschaft, die diese permanente Konfrontation mit Krankheit, Schmerz, Abschied und Tod bislang gar nicht kennt und darüber hinaus liegt uns eine „Trauerkultur“, wie sie in früheren Generationen gelebt wurde, derzeit sogar ziemlich fern. Daher müssen wir nun lernen, neue Wege zu gehen und auch diesem Gefühl eine Daseinsberechtigung zu geben, denn in der Traurigkeit liegt sehr viel Lebenskraft, die wir als innere Wachstumschance nutzen können.

 

Es ist also nicht - wie oft angenommen - die Traurigkeit, die uns die Lebensenergie nimmt, sondern das, was die Traurigkeit in uns auslöst und wie wir darauf reagieren. Denn wir haben ja gelernt zu funktionieren und im Laufe des Lebens die Idee entwickelt, immer stark sein zu müssen. Das ist an sich eine Tugend, aber im Umgang mit sich selbst und mit anderen hat das Auswirkungen. Gerade unsere Kinder sind (so lange wir ihnen dies nicht ausreden oder ihre Gefühle anzweifeln) Meister der Wahrnehmung! Sie haben die feinsten Antennen, die wir uns nur vorstellen können und kriegen vor allem das mit, was wir nicht sagen. Sie spüren daher die Gefühle von uns Erwachsenen viel deutlicher und systemische Familientherapeuten wissen, dass Kinder in Stellvertreterfunktion agieren können und sie manchmal unbewusst durch „komische Verhaltensweisen“ unsere Gefühle ausdrücken, die wir vor ihnen verbergen wollen. 

 

Damit verbunden ist natürlich die Frage, die sich viele Eltern stellen „Wie kann ich in dieser Zeit mein Kind in seinen Gefühlen begleiten, wenn ich mit meinem eigenen Gefühlswirrwarr so viel zu tun habe?“ Denn manchmal spüren wir, dass wir so viel Emotionen von so vielen Seiten (da kommen ja dann noch die Nachrichten dazu, die Gefühlslage der Menschen in Deinem Umfeld usw.) gar nicht gewachsen sind. Daher ist es eine ganz natürliche Reaktion, wenn wir als Folge „unsere Schotten dicht machen“ und so wenig wie möglich an uns heranlassen. Denn schließlich – wir bleiben mal bei diesem Bild - bist Du die Arche Noah Deiner Kinder und willst sie sicher durch das derzeitige Leben steuern. Doch dazu reicht es eben nicht allein, nur die Schotten dicht zu machen, Du musst auch navigieren können und Dein Schiff instandhalten!

 

Was also tun? Wenn Du das nächste Mal traurig bist oder vielleicht auch jetzt gerade, hör mal für einen kurzen Moment auf, mit Dir selbst zu ringen und Dir zu viele Fragen zu stellen. Nimm in Gedanken einfach mal Deine Seele tröstend in den Arm! Vielleicht kommt Dir auch gerade ein Bild in den Sinn, dein inneres Bild des Trostes. Überleg einfach mal einen Augenblick, wie es für Dich aussieht, wenn jemand getröstet wird. Übrigens ist die Angst, dass alles schlimmer werden oder uns überfluten könnte, wenn wir die Traurigkeit zulassen, meist unbegründet. Das Gegenteil ist häufig der Fall: wenn wir unsere Traurigkeit wahr- und ernstnehmen, dann breitet sich nach einiger Zeit meist Ruhe und Beruhigung in uns aus. Bei Kindern können wir das immer so unglaublich intensiv miterleben, wenn das bitterliche Weinen allmählich in ein Schluchzen übergeht, sich das Kind zunehmend in den haltenden Arm fallen lässt und schließlich eine friedvolle Ruhe (manchmal auch gepaart mit Erschöpfung) in ihm einkehrt. 

 

Und genau das darfst Du hin und wieder auch bei Dir selbst tun, indem Du Deine Traurigkeit anerkennst und Mitgefühl Dir selbst gegenüber zeigst. Und wenn Du dabei weinen musst, dann weine. Weinen darf sein, weinen erleichtert und entlastet. Ja, du darfst traurig sein, aber Du solltest nicht darin stecken bleiben, sondern Dir zum Beispiel jetzt vertraute Personen suchen, mit denen Du über Deine Sorgen sprechen kannst. Und das geht auch trotz eingeschränkter Kontakte, denn oft reichen schon ein, zwei liebe Menschen in Deinem Umfeld. Indem wir uns Erzählräume schaffen und Dinge aussprechen, können wir begreifen. Und manchmal merkst Du auch schon während des Gesprächs, wie sich Dinge entzerren und nicht mehr so schwer anfühlen oder es entwickeln sich ganz neue Sichtweisen. Und das Zusammenspiel von Ideen und Sichtweisen ergibt hin und wieder ganz erstaunliche Lösungen. Du brauchst dazu auch keine psychologische Ausbildung, meist reichen ein gesunder Menschenverstand und mitfühlende Herzenswärme.  

 

Du kannst natürlich auch einfach mal Deine Gedanken in Form eines Tagebucheintrags aufschreiben oder wenn Du willst, ein Bild malen (vielleicht kommt Dir ja gerade was in den Sinn). Auch das kann befreien und Dir Deine innere Last erleichtern. Auch Bewegung und Sport tun den meisten Menschen gut und können Dich aus Deinem Gedankenkarusell reißen und Dich wieder mehr in Kontakt mit Deinem Körper bringen. Außerdem werden bei Bewegung Stresshormone abgebaut und „Glückshormone“ produziert, was derzeit sicherlich nicht verkehrt sein kann.

 

Vielleicht hilft Dir der abschließende Gedanke, dass das Leben an sich einer immer wiederkehrenden Rhythmik unterliegt, denn so wie der Tag auf die Nacht folgt, folgt Jahreszeit um Jahreszeit, gute Zeiten wechseln sich mit nicht so guten ab und alles befindet sich ständig im Wandel. Daher darfst Du drauf vertrauen, dass das Leben immer wieder neue Chancen für Dich bereit hält und das, was Du dafür tun kannst, ist, Deinen Blick dafür offen zu halten. Dann wirst Du erkennen, wann ein guter Moment zum Handeln oder eben auch Loslassen da ist, denn schließlich gibt es im Leben eben auch Selbstregulierungskräfte: wir können zwar tun, was in unserer eigenen Macht liegt, aber wir dürfen auch darauf vertrauen, dass zur richtigen Zeit das Passende kommt. Und dann wäre es ja jammerschade, wenn wir das verpassen!

 

Herzliche Grüße,

Deine Corinna 

Kommentar schreiben

Kommentare: 5
  • #1

    Teresa (Freitag, 13 November 2020 10:58)

    Auch dieses Mal ist dir wieder ein unglaublich toller Artikel gelungen�� Ich freue mich jede Woche auf deinen Blog�

  • #2

    Susanne (Freitag, 13 November 2020 13:52)

    Dem kann ich nur zustimmen liebe Teresa. Die Artikel sind nachdenklich, liebevoll und mit viel Wärme geschrieben.

  • #3

    Isa (Freitag, 13 November 2020 17:37)

    Du schaffst es immer wieder liebe Corinna, dass mich deine Beiträge und Gedanken sehr berühren! Sehr schön geschrieben...

  • #4

    Christine (Sonntag, 15 November 2020 10:58)

    Liebe Corinna,
    Dir gelingt es immer wieder sehr empathisch und lebensnah Deine Artikel zu verfassen. Danke sehr

  • #5

    Silvia (Dienstag, 17 November 2020 20:00)

    Wieder ein toller Text, der einem in diesen wirren Zeiten mal wieder die Augen für das Wesentliche öffnet!
    Liebe Grüße!!!